PROLOG
Er: 1,12 Meter
Ich: 1,83 Meter
SZENE
Also ein Wettkampf. Ein kleiner zwar, unbedeutend und wenig aussagekräftig. Aber: Ein Wettkampf. Mann gegen Männchen. Ein Korb, ein Ball, eine Regel: Zwei Freiwürfe; wer mehr trifft, hat gewonnen. Es ging um nichts, um nichts Geringeres als die Ehre. Es gab einen Sieger und, was viel entscheidender ist, einen Verlierer.
Denn er hasst verlieren.
Er lungert beim Fußballtraining lieber halbe Ewigkeiten im Tor herum, als im Mittelfeld Gefahr zu laufen, zufällig den Ball zu verlieren. Er lässt seine Schwester lieber allein videospielen, weil er um ihre fingerkoordinative Überlegenheit weiß. Er trainiert sich in der Kunst des Memory offenbar lieber mehrere Stunden am Tag, nur um seine Eltern regelmäßig höchst entspannt abzocken zu können. Er mag eben viel lieber gewinnen.
Daher hatte ich für einen Moment überlegt, wirklich so kurz vor dem Abendbrot noch ein Freiwurf-Battle mit ihm austragen zu wollen. Wir hatten locker ein paar Körbe zusammen geworfen, Pass-Rückpass-Wurf, ganz easy, die Stimmung war prächtig; selbst die sonst unbeliebte Hochgeh-Ankündigung die letzten Würfe jetzt hatte er gutgelaunt mit einem typischen Na wenn es denn unbedingt sein muss erwidert. Warum also diese kleine Basketball-Idylle durch einen übermütig angesetzten Mini-Wettkampf unnötig gefährden?
Er könnte schließlich verlieren.
Diese Art Abwägen kommt nicht selten vor. Er muss es lernen, ja, aber auch Eltern haben mal ein Recht auf Ruhe. Jedoch ich wagte den Wettkampf und warf ihm mit einem sanft herausfordernden Du fängst an! den Ball zu. Er fing, stellte sich an die flink in den Sand gezogene Linie. Und warf: einen daneben, einen rein. Dann ich: einen rein, einen daneben. Unentschieden, nochmal jeder zwei.
Ich beobachtete seine Aufgeregtheit, das Kind war fixiert auf den Korb und total erpicht darauf, seinen Vater zu besiegen. Der gesamte Inhalt diverser Entwicklungserklärbuchkapitel sammelte sich in diesem Moment in meinem Sohn. Er warf – daneben. Die drohende Niederlage verfinsterte seine Miene, jetzt ein falscher Witz meinerseits, und mein Sensibelchen liefe wohl wütend zu Mami. Ich verzichtete gnädig und sah den zweiten Wurf glücklich ins Netz plumpsen.
Okay, dachte ich, gestalten wir die Sache noch etwas spannender. Mein erster Wurf – daneben. Mit Absicht. Nach dem zweiten, erfolgreichen, würde ich schließlich im dritten Durchgang gewinnen, man kann ja nicht immer gewinnen, mein Großer, du musst doch nicht traurig sein, es ist nur ein Spiel, es gibt doch Wichtigeres. Und das nächste Mal gewinnst du, versprochen. Er würde wieder etwas dazugelernt haben.
Also ran an die Linie. Der Korb war etwa anderthalb Meter entfernt, knapp über Augenhöhe an die Schuppentür gehängt. Der Ball war recht klein und schön griffig, der Korb scheunentorbreit. Ich konnte gar nicht anders als treffen, mit geschlossenen Augen hätte ich wohl sieben von zehn versenkt. Ich prallte den Ball auf, einmal, zweimal, dreimal, viermal, die Show stimmte. Ich federte aufreizend lange in den Beinen, peilte das Ziel an, blickte zu ihm, blickte zum Korb, atmete aus, und wollte gerade werfen.
Wirf, Kleiner!
Es war der perfekte Zeitpunkt. Es waren die perfekten Worte. Ich blickte wieder zu ihm und sah, dass es auch der perfekte Gesichtsausdruck war. Es war der perfekte Trash Talk. Ich muss in dieser Sekunde ziemlich belämmert ausgesehen haben, er grinste und machte nicht den Fehler, jetzt noch etwas hinterherzusagen. Die beiden Wörter waberten zwischen mir und dem Korb, ich konnte nur noch an diese Frechheit denken, ich warf, ich traf nur den Ring.
Er hatte gewonnen. Und seine Lektion für den Abend gelernt.